Diploma – BauKunst Engadina

Diplomarbeit – Einzelarbeit

Frühjahrssemester 2023

Studio Roger Boltshauser

ETH Zürich

Beschreibt man den Ort Nairs und das dort angesiedelte, ehemalige Kurhotel, so ist die Metapher der Zeitschichten charakteristisch wie auch bezeichnend für diesen Ort. Gelegen am Fusse des Inns, eingebettet zwischen imposanten Dreitausendern, gezeichnet von der rohen Kraft des Wassers sowie der Monumentalität vergangener Jahrhunderte, gerät das Ensemble immer weiter in Vergessenheit und den Bann des Allgegenwärtigen und doch Unsichtbaren. Linguistisch untersucht steht das Wort „nair“ für die Farbe schwarz und ist sinnbildlich für diesen Ort im Tal zu verstehen.

Die Diplomarbeit thematisiert die Frage, wie dieser Ort mit den vor Jahrhunderten gebauten, fortlaufend verändert und angepassten Strukturen für die heutige Zeit und darüber hinaus nutzbar und adaptierter werden kann. Es findet eine spezifische Auseinandersetzung darüber statt, wie das Ensemble in einen nachhaltigen Zyklus überführt werden kann.

Zwei historische Alpenübergänge in Nord-Süd Richtung, zahlreiche bis heute sprudelnde Mineralquellen und der damit verbundene florierende Kurbetrieb führten zu dem Bestreben eine Beherbergungsstätte zu errichten. Unmittelbar an der ehemaligen Poststrasse zwischen Guarda und Scuol (der heutigen Kantonsstrasse 27), auf der grössten ebenen Freifläche in unmittelbarer Nähe zum Inn und den Heilquellen, errichtete der Architekt Felix Wilhelm Kubly im Jahr 1864 das Kurhaus Schuls-Tarasp. Ein Kesselhaus, eine Villa und nicht zuletzt die Büvetta folgten in den darauffolgenden Jahren und vervollständigten das Ensemble. Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem stark rückläufigen Kurbetrieb wandelte sich die Rolle des Kurhotels hin zu einem Grandhotel. Wechselnde Besitzer und Spekulationen führten im Jahr 2012 zur Schliessung des Hotelkomplexes. Trotz einer umfassenden Renovation 2014 eröffnet das ehemalige Kurhotel seine Pforten nicht mehr und steht bisher leer und ungenutzt.

Der Wandel der Zeit hat äusserlich wie auch im Inneren deutliche Spuren hinterlassen. Additiv hinzugefügte Volumen auf der Parkseite, etliche Schichten an Fassadenputz wie auch diverse Farbanstriche an der Fassade, laufende Umbauten und „Modernisierungen“ im Inneren haben zu einem porösen, partiell fast schon spolienartigen und dringend zu intervenierenden Konstrukt geführt. Programmatisch gilt es das Ensemble in ein neues, dichtes Netz zu verflechten. Dieses soll und muss über den Standort hinaus eine Reichweite und Anziehungskraft generieren und einen Ort schaffen, an dem die Region zusammenkommen kann. Ein nachhaltiger Betrieb, welcher die Identität des Unterengadin prägt, bewahrt und fortführt. Nachhaltig bedeutet in diesem Kontext Räumlichkeiten zu schaffen, die flexibel und adaptierbar sind, sich mit der Zeit verändern und auf wechselnde äussere Parameter reagieren.

Das Konzept basiert auf dem Rückführen des Bestands durch gezielte Abbrüche auf seine Bausubstanz von 1864. Das Entfernen der verschiedenen Zeitschichten in Form des Putzes soll den nackten Stein zum Hauptthema machen. Ziel ist es, die ehemalige Funktion des Gebäudes in neuem Gewand zu reintegrieren und ihm eine neue Funktion zu geben. Die Architektur des Gebäudes soll den Charakter des Ortes widerspiegeln und die natürliche Schönheit der Umgebung hervorheben. Der Einsatz von Materialien wie Holz und Naturstein soll den Bezug zur Natur unterstreichen und eine harmonische Verbindung zwischen Gebäude und Landschaft schaffen. Das Konzept sieht vor, dass das Gebäude sich in die Topografie einfügt und organisch mit dieser verschmilzt. Angestrebt wir ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Architektur, Landschaft und Umgebung.

Das Kunstzentrum Fundazion Nairs besitzt bereits eine Reichweite über das Unterengadin hinaus und fungiert als Schlüsselfigur für das Ensemble. Die bestehenden Kapazitäten und Räumlichkeiten für die Kunst sind erschöpft und streben nach einer Erweiterung und Ausdehnung über das gesamte Areal. Als Gegenüber der Fundazion hält das handwerkliche Zentrum für Engadiner Baukunst als Lehr-, Schulungs- und Ausbildungsstätte Einzug in die Räumlichkeiten des ehemaligen Kurhotels. Angegliedert daran werden Zeitwohnungen für das Alpin Sabbatical und die Möglichkeit einer modernen nachhaltigen Kur geschaffen. Das ehemalige Kurhotel bleibt im Mittleren Baukörper weitgehend erhalten. Der Ostflügel wird komplett entkernt und schafft neuen Platz für einen Eventsaal, welcher der Allgemeinheit zugeschrieben ist. Der Ostflügel wird etagenweise entkernt und beherbergt fortan flexible Kunstatelierräume. Die Körper zwischen Ost-, West und Mittelbau beherbergen neue Schulungsräume. Der präzise zwischen Grandhotel, Villa und Freiraum gesetzte Neubau ist komplett der Kunst zugeordnet und bildet in vertikaler Form einen Gegenspieler zu der sich horizontal entwickelnden Künstlervilla. Die deutlich sichtbaren und verunklärenden Zeitschichten der äusseren Erscheinung des Kurhotels, in Form von angesetzten Volumina, mehrschichtigen Putz-, Farbschichten wie auch Stuckelemente an der Aussenfassade werden reduziert oder ganz entfernt und auf den Ausgangszustand von 1864 zurückgeführt. Für ein einheitliches Bild des Ensembles werden auch die umliegenden Gebäude einer Fassadensanierung unterzogen. Die neue äussere Hülle bildet ein zurückhaltender Dämmputz, der die äussere Erscheinung der jeweiligen Gebäude nicht verunklärt durch etwaige Aufbaustärken anderer Dämmstoffe und der es erlaubt den Ursprungszustand bestmöglich wiederherzustellen. Bauen im Bestand bedeutet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit der bestehenden Struktur und etwaiger Korrekturen. Dieser Disput gewährleistet mehr Flexibilität für die Zukunft und eine Reagibilität des Gebäudes auf den Zyklus der Zeit. Die bestehende, kleinteilige Zellenstruktur des ehemaligen Kurhotels bleibt im mittleren Körper des gleichschenkligen Baukörpers in den oberen Geschossen bestehen und wird mittels kleiner Korrekturen an die heutigen Mindestkomfortstandards angepasst. Die Annexe des Hotels werden ausgeräumt und für Schulungszwecke verfügbar gemacht. Der östliche Flügel, die heute brachliegende Baureserve, wird umfassend bis auf die Grundmauern entkernt und der Allgemeinheit in Form einer grossen Eventhalle in Auditoriumcharakter und Entree mit Ausstellungsmöglichkeit der Fundazion bereitgestellt. Der westliche Flügel wird etagenweise vollständig entkernt und mit gezielten Deckendurchbrüchen erweitert. Ein einfaches Ausbauraster in Form von Stützen und vorinstallierten Waschbecken bilden die Basis für Kunstateliers, die entsprechend einem individuellen Platzbedarf abgetrennt, geöffnet und eingerichtet werden können. 

Das neue Atelierhaus im Park formuliert den Gegenspieler zu der sich horizontal erstreckenden Künstlervilla. Das Atelierhaus entwickelt sich in die Höhe und arbeitet mit der typischen landschaftlichen Topografie des Engadins. Ausstellungsflächen zum Fluss und Park stellen eine Verbindung zum Aussenraum her. Die darüberliegende Wohn und Ateliergeschosse fungieren als Wohngemeinschaften des produktiven Schaffens. Zuoberst des neuen Hauses befinden sich die gemeinschaftlichen Wohn-, Sport, Koch- und Aufenthaltsflächen. Über den Baumkronen der Landschaft wird eine Flucht aus der enge des Tals hin zur weite des Himmels und Sonne ermöglicht. Das Errichten neuer Gebäude bedingt mehr denn je Verantwortung für nachfolgende Generationen zu übernehmen. Die stetige Wiederverwendung von Bauteilen im Sinne eines zyklischen Geschehens, eines Kreislaufs derselben –dem Recycling, sichern diese Verantwortung der Zukunft gegenüber. Die konstruktive Basis des neuen Atelierhauses gründen Betonfertigstützen, welche mittels einer gebolzten Steckverbindung etagenweise gefügt werden. Die Ringaussteifung erfolgt mittels zwischengespannter Bügel aus Holzbalken. Holzunterzüge und CLT Decken mit einem modularen Trockenestrichaufbau bilden das Infill aus und stellen eine Geschossigkeit her. Diese Geschossigkeit kann in der Höhe variabel nach Belieben und jeweiligen Nutzung durch Entfernen einzelner Deckenplatten mit der Zeit angepasst werden. Gebäudedämmungen verursachen heute einen immensen CO2-Eintrag bei der Herstellung und anschliessenden Entsorgung. Die abschliessende Fassadenhülle bildet ein kalkverputztes Hanf-Mauerwerk. Hanf als Werkstoff speichert CO2 und besitzt eine negative CO2-Bilanz. Durch das Hanf-Mauerwerk ist eine zusätzliche Dämmschicht nicht mehr notwendig und die reine Ästhetik des Materials artikuliert mit dessen historischem Kontext, der Stärke des Inns und der Reinheit Natur.

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